Der große Herr Knigge ist sich beim Einsatz der zehn Finger am Tisch nicht ganz sicher: Hühnerflügel dürfen per Hand abgenagen werden, bei der Keule entscheidet die Sauce bzw. die Beilagen über die Möglichkeit des Weglassens von Messer und Gabel. Das Schweinekotelett in Richtung Knochen darf am Volksfest mit Genuss abgenagen werden, in der feinen Runde muss das Beste vom Besten – das Fleisch am Knochen entweder mühsam und zumeist erfolglos mit dem Messer bearbeitet oder zurückgelassen werden. Welch eine Schande – deswegen stellt die Wilderin klar: hier darf – in manchen Fällen muss – einfach auf die sogenannten „guten Sitten“ vergessen werden. Hier darf in aller Einfachheit zu einem der schönsten Genüsse zurückgefunden werden: Der Haptik beim Essen.

haptik

1.) Was geht? Eigentlich alles wo ein schöner Knochen mit dabei ist, oder das Essen in guter alter Tradition des Earl of Sandwich zwischen zwei Brotscheiben, Burgerbuns oder sonstigem Gebäck gepackt wurde – um eben in aller Einfachheit mit den zehn angeborenen Essensfangern eingesammelt werden zu können.

2.) Was geht nicht? Schwer zu sagen – man will den haptischen Genuss ja nicht verbieten. Aber es wird schon einen Grund gehabt haben, warum Messer, Gabel & Löffel einst nicht nur erfunden wurden, sondern sogar einen beachtlichen Siegeszug angetreten haben. So aus dem Bauch heraus also gach: Suppen, Pasta, Gulasch und Co. Oder anders gesagt, eventuell alles, wo sich unsere Küchencrew neben Fleisch oder Gemüse auch noch die ein oder andere Beilage überlegt hat, die eben am Besten schmecken, wenn Sie nach eigenem Ermessen auf der Gabel gemischt – und wahrscheinlich auch mit einem guten Saftl vermengt – genossen werden.

3.) Was geht gar nicht? Ganz ehrlich? Einen Burger mit Messer und Gabel zu essen. Dito ein Sandwich. Diese Gerichte sind deswegen erfunden worden, um sie mit den Fingern zu essen – alles andere ist nicht im Sinne des Erfinders. Ich mein, auch einen Ferrari baut man nicht zu einem lautlosem Elektromobil um, um damit in der verkehrsberuhigten Zone die Kinder in die Schule schupfn zu können. Und wenn man keinen Burger in die Hand nehmen will, kann man ja noch immer ein Fleischlaberl mit Salatbeilage, Sauce und einem Stück Brot bestellen.

4.) Die Faszination der Knochen. Knochen sind ein ziemlich ähnliches Thema wie Burger, Sandwich und Co. Ganz ehrlich: Wer träumt nicht davon eine gegrillte Wildsau in aller gallischen Hingabe wie unser lieber Obelix zu fressen (sorry, ein anderes Wort dafür gibt es nicht). Mag vielleicht nicht gerade die feine englische Art sein – aber nochmal: Wer träumt davon nicht. Und auch wenn ein Kotelett, eine Hendlkeule, ein T-Bone oder eine Wachtel nicht ganz eine ganze Sau sind: Nur mit der Zuhilfenahme der eigenen Finger kann jedes noch so zarte, verführerische und geschmacklich grandiose Fleischstückerl auch wirklich erwischt werden. Also: Bitte keine Scheu.

5.) Was mach ich mit meinen – dann doch ein wenig angepatzten – Fingern? Nein, es muss nicht dass Frischetuch mit irgendeiner dubiosen Reinigungschemie sein – wie wäre es zum Anfang mal mit genüsslichem Abschlecken der eigenen Finger? Immerhin ist ja dieser Genuss, nach dem Genuss des haptischen Essens, die letzte Krönung. Und wenn es so ein Genuss ist – warum darauf verzichten? Dann hilft auch noch die Serviette viel und wenn man sich dem haptischen Essen so sehr hingegeben hat, dass beides nicht hilft – dann würde auch kein Reinigungstüchlein helfen, dann ab zum Wasserhahn und brav waschen.

6.) Stört das haptische Essen niemanden? Mag sein. Aber ist ein Ort, an dem wirklich genüssliches, mit allen Sinnen angegangenes Essen nicht zelebriert sondern mit Achtung geschmäht wird, wirklich ein Ort des Genusses? Eben – oder in anderen Worten: Was stört‘s die – haptisch ihr Essen genießende – Eiche, wenn sich die – rein auf Stil bedachte – Sau an ihr reibt? Sorry Herr Knigge: Genuss schlägt Etikette.

7.) Vertraut dem eigenen Instinkt. Kinder und Besoffene sagen immer die Wahrheit. Ergo auch beim Essen: Ob Kindergeburtstag oder der Herr, die Dame mit ein paar Bierlein zu viel – gerne, nur allzu gerne wird hier auf Messer und Gabel vergessen. Weil es einfach die ursprünglichste Art zu Essen ist. Hier fühlen wir uns sicher, hier steht einfach nur der Genuss ohne Regeln im Fokus der Aufmerksamkeit (bei Zweiteren vielleicht auch der promillegestützte Heißhunger…)